Die Poetik des Aristoteles gilt als erste systematische Abhandlung über die Kunst, genauer die Dichtkunst. Im Zentrum des Werks steht dabei die Tragödie. Zwar gab es schon vor Aristoteles verschiedene Ansätze, die Dichtkunst in ontologischer, ästhetischer oder ethischer Hinsicht zu bewerten, doch ist die Poetik die älteste erhaltene selbstständige Schrift, die versucht, die Praxis der Dichtung und ihre Werke auf philosophische Begriffe zu bringen. Historisch wegweisend für die abendländische Tradition bis in die Neuzeit hinein waren etwa die Begriffe Katharsis und Mimesis. Während die Katharsis die eigentümliche Wirkung der Tragödie als eine „Reinigung“ von den Affekten der Furcht und des Jammers beschreibt, bezeichnet die Mimesis das eigentümliche Verfahren der Kunst als „Nachahmung der Wirklichkeit“. Die Bestimmung der Kunst als Mimesis übernimmt Aristoteles von Platon, doch gibt Aristoteles ihr eine neue Wendung. Was Kunst nachahme, sei nicht die Erscheinung, sondern die Natur der Dinge. Auch und gerade, indem sie das nur Mögliche oder bloß Wahrscheinliche zeige, erlaube sie eine Einsicht in die Struktur der Wirklichkeit. Zu einer solchen Einsicht affektiv zu bewegen, ist nach Aristoteles der eigentliche Zweck der Dichtung. Damit traut Aristoteles der Kunst, insbesondere der Tragödie, und deren poetischen Stilmitteln, insbesondere der Metapher, eine Wahrheitsfähigkeit zu, die ihnen bis dahin oft versagt wurde (aka „Die Dichter lügen“). So enthält die Poetik auch eine erste systematische Theorie der Metapher, die neben der Theorie der Tragödie, lange Zeit, bis zum Beginn der Moderne, das Verständnis beider Kunst- und Redeformen bestimmte. Mit der Metapher beschäftigt sich Aristoteles auch in seiner Rhetorik, die sich mit der Wirkung der öffentlichen Rede befasst. Aus beiden Abhandlungen wird deutlich, dass Aristoteles die (gelungene) Metapher als eine privilegierte Form der Erkenntnis betrachtet, die noch keine begriffliche, aber ontologische Grundlage hat. Diese expliziert Aristoteles in seiner Untersuchung zur Physik, wo er erklärt, dass Kunst (techné) die Natur teils nachahme, teils vollende, was diese unvollendet ließ. Auf der Grundlage des damit verbundenen naturphilosophischen Prozessmodells ist schließlich auch die aristotelische Theorie der Tragödie zu verstehen, deren Wirkung eine gleichsam vorbegriffliche Einsicht in die Struktur der Wirklichkeit sei.


In dem Seminar soll der Gedanken- und Argumentationsgang der Poetik im Kontext ihrer sprach- und naturphilosophischen Bezüge rekonstruiert und interpretiert werden. Der Text der Poetik selbst war als Vorlesungsmanuskript konzipiert, ist nur unvollständig überliefert und gilt wegen der Knappheit seiner Ausführungen als ein eher sprödes Werk. Die gemeinsame, schrittweise Lektüre und Diskussion des antiken Klassikers soll dabei helfen, dieses kurze, aber sehr dichte Buch über die Dichtung zu erschließen. 


Textgrundlage des Seminars ist eine möglichst zweisprachige Ausgabe des Werks. Zur Anschaffung empfehle ich deutsche Standardübersetzung: Aristoteles: Die Poetik. Griechisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam 1994. Auszüge aus der Rhetorik und Physik werden digital bereitgestellt.  


Die Voraussetzungen und Modalitäten für das Erbringen von Studienleistungen werden zusammen mit dem detaillierten Seminarprogramm in der ersten Sitzung besprochen. Kenntnisse des Altgriechischen sind nicht erforderlich, aber hilfreich. 


Semester: SoSe 2018