Lehrinhalte
Eine bekannte, zunehmend unzeitgemäße Diagnose lautet: Die Computerisierung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts hat tiefgreifende Veränderungen hervorgebracht, dank denen wir es mit nichts weniger als einer neuen industriellen Revolution zu tun hätten, die noch unsere Sozial- und Intellektualtechniken miterfasst habe und mindestens mit der Erfindung des Buchdrucks verglichen werden müsse.

Derartige Diagnosen, die sich in unzähligen Spielarten von programmatischen Schriften bis hin zum Feuilleton finden lassen, zeigten noch bis vor wenigen Jahren auf einen Enthusiasmus, nach dem wir nicht weniger als an der Schwelle zu einem neuen demokratischeren, freieren, digitaleren Abschnitt der „Menschheitsgeschichte“ stünden. Problematisch schien vielleicht noch, einen drohenden „digital divide“ in dieser neuen Modernisierung zu überwinden. - Dieser Enthusiasmus, der nie unwidersprochen blieb, ebbt seit einigen Jahren merklich ab und wirkt zunehmend anachronistisch.

Es scheint heute eher, dass die Mahnungen und Warnungen sich bewahrheiteten: Stichwörter wie NSA/GCHQ, Facebook, Google, Scoringsysteme wie das der Schufa, VDS, Big Data, stille SMS, Predictive Policing wie INDECT, Staatstrojaner, Darknet, Cyber- und Information Warfare... geben offenbar denen rückwirkend Recht, die seit spätestens den 80er Jahren auf einen wirksamen Datenschutz gedrungen haben: Freiheit bedürfe kurz gesagt einer (notorisch unterbestimmten) „Privatheit“, die durch „Verdatung“ und zunehmende Totalerfassung immer mehr in Gefahr sei.

Es ist hiergegen längst deutlich geworden, dass der Verweis auf den Datenschutz zu kurz greift, insoweit dabei einseitig auf die Speicherung von Daten abgestellt, aber ihre Verarbeitung übergangen wird. Auch wenn die Datenschutzgesetze neben Datenspeicherung und -übertragung schon lange deren Verarbeitung miterfassen, ist die Rolle der Verarbeitung jenseits technisch-informatischer Aspekte wenig verstanden. Algorithmen, hier grob und vorläufig verstanden als Bausteine von Software, erscheinen oft als Blackbox. Was fehlt sind Methoden und Begriffe einer „Algorithmenkritik“, die eine fundierte und differenzierte Analyse aus sozial- wie geisteswissenschaftlicher Sicht erlauben. Aus dieser Sicht sind viele Begriffe, die für eine „Algorithmenkritk“ nötig scheinen, nur schlecht zu greifen und klärungsbedürftig: „Algorithmus“, „maschinelles Lernen“, „Digitalisierung“, „Datafizierung“, „Verdatung“, … Gleiches gilt für Phänomene wie sich selbst verstärkende Prozesse, externalisierte Gedächtnisse, aber auch algorithmische Kontrollregime.

In diesem Seminar wollen wir aus Sicht der Philosophie (unter besonderer Berücksichtigung empirischer Beispiele und soziologischer Fragestellungen) versuchen, die Blackbox zu öffnen. Unser Ziel ist also, philosophisches Rüstzeug für eine Kritik der Algorithmen zu aufzuarbeiten, zu verstehen und vielleicht auch weiterzuentwickeln. Mögliche Fragestellungen umfassen u.a.:
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[*]Was ist ein Algorithmus? Wie denkt die Informatik über algorithmische Verfahren nach? Wie können Philosophie und Soziologie hierüber nachdenken?
[*]Was passiert mit „analogen“ Daten, wenn sie digitalisiert bzw. „datafiziert“ werden?
[*]Was ist machine learning und welche Bedeutung hat es für eine (philosophische oder soziologische) Algorithmenkritik?
[*]Was ist algorithmic decision making? Was algorithmic governance? Was sind dessen Auswirkungen auf menschliche Interaktionen?
[*]Welche Folgen hat Datafizierung für Sprache? Wie lässt sich Sprache algorithmisch auswerten? Wie kann Algorithmenkritik hierauf reagieren?
[*]Welche Rolle spielen Informationsassistenten, insbesondere wenn sie unser Gedächtnis betreffen, in einer Kritik der Algorithmen?
[*]Wie ist Algorithmenkritik möglich? Wie lassen sich die entwickelten Begriffe zur Beschreibung konkreter, empirischer Fälle anwenden?
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Literatur
Literatur wird in der ersten Sitzung bekannt gegeben.

Voraussetzungen
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[*]Interesse an aktuellen interdisziplinären Fragen der Computerisierung im Grenzgebiet von Philosophie, Soziologie, Informatik
[*]Bereitschaft zur regelmäßigen und aktiven Teilnahme an den Seminarsitzungen
[*]Bereitschaft zur Vorbereitung, insb. Lektüre deutscher und englischer Texte
[*]Bereitschaft, ein Kurzreferat zu ergänzenden Texten zu übernehmen
[*]Bereitschaft, ein Lernportfolio zu führen (Details werden in der ersten Sitzung bekannt gegeben).
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Semester: SoSe 2018