Lehrinhalte
Als „kritische Phänomenologie“ bezeichnet sich eine junge Strömung, in der phänomenologische Ansätze mit den Anliegen der „critical theory“ zusammengeführt werden. Mit „critical theory“ ist dabei nicht nur die Kritische Theorie der Frankfurter Schule im engeren Sinne gemeint, vielmehr werden im englischen Sprachraum ebenso Michel Foucault oder etwa Jean Baudrillard als „critical theorists“ bezeichnet. Beide Seiten profitieren von dieser Annäherung: Politische Theoretiker*innen interessieren sich für die Methoden, mit denen phänomenologische Ansätze politische Erfahrung und das „making and unmaking of world“ (Scarry 1985) in politisierten oder prekären Situationen beschreibbar werden lassen. Umgekehrt intensiviert sich die Auseinandersetzung mit politischen Fragestellungen auf phänomenologischer Seite.

Bekanntermaßen ist das Verhältnis von Phänomenologie und politischem Denken kein unkompliziertes. Dies betrifft einerseits die notwendige kritisch-philosophische Auseinandersetzung mit politisch kompromittierenden Figuren wie Heidegger, manifestiert sich aber auch, ganz anders, in den methodischen Vorwürfen des Solipsismus, Internalismus, Subjektivismus, Transzendentalismus und Essenzialismus, die man klassischerweise an Husserl richtete. Wie Gayle Salomon kürzlich festhielt, zeichnen solche Vorwürfe allerdings meist eine „Karikatur“ der Phänomenologie.  Zudem übersehen oder unterschlagen sie, dass eine wichtige Traditionslinie in der französischen Phänomenologie sich durchaus politisch bewusst mit dem Husserl’schen und Heidegger’schen Erbe auseinandersetzte und gerade im Namen der „Sachen selbst“ ethische und politische Transformationen an der klassischen Phänomenologie vornahm. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass sich die „critical phenomenologists“ vornehmlich auf Simone de Beauvoir, Frantz Fanon, Maurice Merleau-Ponty, Jean-Paul Sartre, Emmanuel Levinas, Jacques Derrida u.a. als ihre Gewährsleute beziehen. Vor allem aber ist der Blick dabei eher nach vorne als exegetisch nach hinten gerichtet, was eine kritische und dennoch produktive Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Tradition keineswegs ausschließt. Wenn also kritische und politische Phänomenolog*innen sich vor allem mit Fragen der Macht, der In- und Exklusion, der Institution auseinandersetzen wollen und umgekehrt ein Interesse der politischen Theorie an der leiblichen, intersubjektiven und sinnbildenden Dimension von Erfahrung besteht, dann gilt es, die Möglichkeiten neuer Theoriebildung an dieser Schnittstelle von Struktur/Institution und Erfahrung neu und weiter auszuloten.

Im Seminar werden einerseits Texte von „Klassikern“ der Kritischen Phänomenologie lesen (Sartre, de Beauvoir, Merleau-Ponty, Fanon, Young), andererseits Gegenwartstexte aufgreifen, die sich mit feministischen Ansätzen, sowie Ansätzen der race studies und disability studies auseinandersetzen (Ahmed, Weiss, Heinämaa, Oksala, Al-Saji, Gündogdu, Günther, Ortega).

Literatur
Eine Literaturliste wird zu Beginn des Seminars zur Verfügung gestellt.

Voraussetzungen
Das Seminar richtet sich an fortgeschrittene Studierende. Es ist nicht als Einführung konzipiert. Kenntnisse der genannten Autor*innen und philosophischen Strömungen sind von Vorteil, aber nicht Pflichtvoraussetzung.

 

 

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Semester: WT 2019/20