Lehrinhalte
Politische Gewalt ist "die direkte physische Schädigung von Menschen durch Menschen […] zu politischen Zwecken" (Enzmann 2013, S. 46). Als politisch gelten Zwecke, die darauf ausgerichtet sind, "von oder für die Gesellschaft getroffene Entscheidungen zu verhindern oder zu erzwingen oder die auf die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens ziel[en] und versuch[en] bestehende Leitideen zu verteidigen oder durch neue zu ersetzen" (ebd. S. 46). Politische Gewalt wird von staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur:innen zumeist im Rahmen von Kriegen, Bürgerkriegen, Staatsterror, Revolution, Widerstandsbewegungen, Extremismus oder Terrorismus ausgeübt. Da sich politische Gewalt "an die Öffentlichkeit als Unterstützer, Publikum oder Schiedsrichter appellierend" richtet (ebd.), findet sie im öffentlichen Raum statt. Dies bedeutet, dass die Ausübung politischer Gewalt unweigerlich (öffentliche) Orte produziert, die sodann für die Ursachen und Praktiken der Gewaltausübung zu stehen beginnen. An sie heften sich die Erinnerungen von Opfern, Tätern, Unbeteiligten und ihren Nachkommen. Die Vielgestaltigkeit dieser Erinnerungen macht den konfliktreichen oder konsensuellen (Nicht-)Umgang mit diesen Orten zu einem Gegenstand ständiger machtvoller Neuaushandlungen und zu einer dauernden gesamtgesellschaftlichen Herausforderung.

Das vieldiskutierte Konzept der multidirektionalen Erinnerung von Michael Rothberg (2021 [2009]) greift diese komplexen Herausforderungen auf. In einem von Globalisierung, Dekolonialisierung und Digitalisierung geprägten Zeitalter werden die Erinnerungen verschiedenster von politischer Gewalt betroffener Gruppen an Orten zunehmend translokal und transnational verhandelt. Rothberg kritisiert, dass in Bezug auf Erinnerungen an Gewalterfahrungen ein Denken vorherrscht, das diese Erinnerungen zueinander in Konkurrenz setzt. Ihm zufolge wird das Feld der Erinnerung durch eine Logik der Knappheit und Ausschließlichkeit bestimmt. Wie aber lässt sich an politische Gewalt erinnern, ohne dass Erinnerungen und Opfergruppen gegeneinander ausgespielt werden? Diese Frage begreift umkämpfte Prozesse der Erinnerung im Kern als Auseinandersetzungen über Gerechtigkeit.

Das Seminar möchte den schwierigen Umgang mit Orten politischer Gewalt am Beispiel Berlins nachzeichnen und diskutieren, ob und wie das Konzept der multidirektionalen Erinnerung helfen kann, unterschiedlichste Erinnerungen produktiv zusammenzubringen. Berlin, von 1871 bis 1945 Hauptstadt des Deutschen Reiches, seit 1990 Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland sowie, mit Blick auf Ost-Berlin, von 1949-1990 Hauptstadt der DDR, ist nicht nur eine Stadt von herausgehobener politischer Bedeutung, sondern auch Ort zahlreicher politischer Regime(wechsel) und Widerstandsbewegungen, die vielfach mit politischer Gewalt einhergingen. Zudem war und ist Berlin Brennpunkt zahlreicher Protestbewegungen, die (nicht erst seit Black Lives Matter und Fridays for Future) vergessene und verdrängte aktuelle und vergangene Formen politischer Gewalt sowie daraus resultierende andauernde strukturelle Ungleichheiten anprangern und für eine andere Politik streiten. Berlin ist also eine Stadt, die es ermöglicht, nicht nur ganz unterschiedliche Orte politischer Gewalt zu betrachten, sondern auch der Macht der Erinnerung in der Gegenwart nachzuspüren.

Das Seminar wird in Kooperation mit Prof. Dr. Susanne Buckley-Zistel vom Zentrum für Konfliktforschung der Universität Marburg durchgeführt. Das Darmstädter Seminar findet zeitgleich mit dem gleichnamigen Marburger Seminar statt, es sind sowohl getrennte als auch gemeinsame Sitzungen der Darmstädter und Marburger Studierenden geplant. Das Seminar beinhaltet eine gemeinsame Exkursion nach Berlin (16. bis 19. Mai 2022), während der Orte politischer Gewalt aufgesucht und Gespräche mit sich für die Erinnerung vor Ort engagierenden Personen geführt werden sollen. Der Schwerpunkt wird auf Orten der Erinnerung an (den Widerstand gegen) den Nationalsozialismus, die deutsch-deutsche Teilung und den Kolonialismus liegen, und in diesem Zusammenhang auch aktuelle Fluchtbewegungen und Proteste gegen Rassismus thematisieren.

Das Seminar richtet sich an Studierende ohne Vorkenntnisse, die sich für das Thema der Erinnerung an politische Gewalt und deren spezifische Ausdrucksformen in Städten interessieren und Spaß an der gemeinsamen, auch interdisziplinären Entwicklung von Ideen haben. Ziel des Seminars ist es, aktuelle Forschungsarbeiten zum beschriebenen Themenkomplex gemeinsam zu lesen und zu diskutieren und anhand von Fallbeispielen die Frage zu bearbeiten, ob und wie die multidirektionale Erinnerung an politische Gewalt heutige Gesellschaften transformieren kann. Die Fähigkeit zur Lektüre von und zur Arbeit mit englischsprachigen Texten wird vorausgesetzt.
 

Literatur
Enzmann, Birgit (2013): Politische Gewalt. Formen, Hintergründe, Überwindbarkeit. In: Dies (Hrsg.): Handbuch Politische Gewalt. Formen – Ursachen – Legitimation – Begrenzung. Wiesbaden: Springer VS, S. 43–66.

Rothberg, Michael (2021 [2009]): Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung. Berlin: Metropol Verlag, zudem erhältlich als Sonderausgabe (Bd. 10745) der Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung in Bonn (https://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/341049/multidirektionale-erinnerung/).

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