Wer interpretiert, interpretiert nicht notwendigerweise Texte, wohl aber jeweils etwas, das sich nicht auf Anhieb oder nicht zureichend erschließt. Vor dem Hintergrund bekannter Ausnahmen sind Interpretationshandlungen im lebensweltlichen und erst recht im wissenschaftlichen Standardfall epistemisch-hermeneutisch motivierte Handlungen: Sie dienen der Gewinnung fehlenden Wissens und dergestalt dem Aufbau oder der Vertiefung von Verstehen. Andererseits gilt, dass verstehensdienliche Interpretationshandlungen nur wissensgestützt vollzogen werden können. Um etwas zu interpretieren – was immer dies sei: die Äußerung eines Freundes, das Verhalten eines Fremden, ein Bild im Museum oder im Fotoalbum der Großeltern, ein Gesetzeswerk des frühen 19. Jahrhunderts oder die Eigenschaften von Channelrhodopsinen in optogenetischen Experimenten –, müssen wir über gegenstandsangemessene wie obendrein interpretationszielgemäße Beträge konzeptuellen, propositionalen und praktischen Wissens verfügen –: eine Ausrüstung, die auch das protomethodische Wissen um allgemeine Interpretationsprinzipien einschließt.

Die Vorlesung führt in den begrifflichen und sachlichen Zusammenhang von Interpretieren, Wissen und Verstehen und auf diesem Wege in die Probleme und den gegenwärtigen Erkenntnisstand allgemeiner Hermeneutik ein. In einem zweiten, nach der Weihnachtspause beginnenden Teil wendet sie sich Grundlegungsfragen fachspezifischer Hermeneutik zu, um anhand von Beispielen aus der Literaturwissenschaft, der Kunstgeschichtswissenschaft, der Jurisprudenz und der empirischen Sozialforschung hermeneutisch relevante Unterschiede und hermeneutisch relevante Gemeinsamkeiten zwischen Disziplinen und Disziplinklassen übersichtlich zu machen.



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Semester: Inverno 2022/23