Offizielle Kursbeschreibung
Eine Grundannahme in der Erkenntnistheorie (Epistemologie) war bis ins 20. Jahrhundert: Wissen ist personal zu denken. Eine Person weiß etwas oder glaubt etwas zu wissen. Diese Annahme wurde kaum diskutiert, sie schien unstrittig. Und sie schrieb sich bis in die Grundbegriffe der Epistemologie fort: Der klassische Wissensbegriff, nach dem Wissen eine wahre, begründete Überzeugung ist, schien ausschließen, dass Erkenntnis „sozial“ gedacht werden könnte. Überzeugungen haben doch nur Personen. Auch die beiden Quellen von Wissen ließen nichts anderes zu: Wissen entstammt entweder aus Erfahrung oder logischen Schlüssen. In beiden Fällen ging es jedoch um die eigene Erfahrung, das eigene logische Schließen. Niemand kann eine Erfahrung für mich machen, so dass ich dann etwas weiß – oder?

Diese Grundannahme wird von der sozialen Epistemologie, die sich im 20. Jahrhundert entwickelt, in Frage gestellt. Man versteht leicht, warum das der Fall ist, wenn man überlegt, wie viel wir zu wissen glauben, dass wir nicht durch eigene Erfahrung oder durch eigenes logisches Nachdenken erworben haben:
Dass es Bakterien gibt und einige gesundheitsschädlich, anderer förderlich sein können, wer die letzte Wahl gewonnen hat und wie dies die Regierungspolitik verändert hat, wie schnell Licht sich bewegt, dass Japan eine Gruppe von Inseln ist oder wann der nächste Bus fährt – selbst wann wir wo geboren worden sind, wissen wir (in der Regel) nicht qua eigener Erkenntnis.

Diese Abhängigkeit von dem, was uns andere (über die Welt) mitteilen, ist der Ausgangspunkt der sozialen Epistemologie. Sie konfrontiert uns mit einem Dilemma: Entweder wir akzeptieren, dass wir etwas wissen können, dass nicht auf eigener Erfahrung oder eigenem logischen Schließen basiert, sondern auf dem, was uns andere über die Welt mitteilen. Dann scheinen jedoch das bloße Meinen und das Wissen zu verschwimmen. Oder lehnen es ab, als Wissen anzusehen, was andere uns mitteilen, dann schnurrt jedoch unser Wissen auf einen ganz kleinen Bereich zusammen, wenn überhaupt etwas übrigbleibt. Wir könnten in der Regel jedenfalls nicht sagen: Wir wissen, dass es Bakterien gibt oder wer die letzte Wahl gewonnen hat.

Die soziale Epistemologie nimmt dieses Dilemma auf und versucht es zu lösen. Sie geht davon aus, dass Erkenntnis, Wissen und ihre Grundlage anders begriffen werden müssen. Daraus ergeben sich auch Konsequenzen für das Verständnis wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse. Mit ihr wollen wir uns Seminar beschäftigen.
 

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Semester: WT 2022/23