Kursbeschreibung

Die Überschreitung des Idealismus zu einem undogmatischen Materialismus kann als das eigentliche Programm der Philosophie Adornos angesehen werden. In diesem Programm liegt zugleich die Spezifik seiner Philosophie. Wie Adorno gegenüber Gershom Scholem bemerkt, habe er sich in seinem 1966 veröffentlichten Hauptwerk [i]Negative Dialektik [/i]„gerade nicht eine materialistische These vorgegeben. Im Gegenteil, es kam mir gerade darauf an, diese Vorgegebenheit, die schließlich auch einem ontologischen Denktypus zugehört, zu durchbrechen. Mit anderen Worten: es wird versucht, in einem sehr bestimmten Sinn Materialismus zu erreichen, nicht von ihm auszugehen" (BW 8/414). Der Materialismus soll dem Idealismus nicht als vermeintlich überlegene Position entgegengehalten werden, wie dies in Adornos Augen im orthodoxen Marxismus der Fall ist. Vielmehr versucht Adorno zu zeigen, dass die Kritik des Idealismus notwendig in den Materialismus führt. Doch nicht erst die Negative Dialektik verschreibt sich diesem Programm.

Im Zentrum des Seminars steht das 1956 veröffentlichte und in der Forschung kaum beachtete Werk [i]Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Husserl und die phänomenologischen Antinomien[/i], dessen Entstehung bis in die dreißiger Jahre zurückreicht. Wie Adorno in einer Vorlesung bemerkt, setzt sich bereits dieses Buch die Aufgabe, „nicht dem Idealismus dogmatisch eine materialistische Philosophie gegenüber zu setzen, sondern nach seinem eigenen Maß, immanent den philosophischen Idealismus zu sprengen" (NaS IV 16/78).

Wir werden uns zunächst mit der Einleitung der Metakritik befassen, die Adorno gegenüber Rolf Tiedemann als jene seiner Arbeiten bezeichnet hat, „die neben dem Aufsatz ‚Der Essay als Form‘ […] noch am ehesten ein Programm seiner Philosophie enthalte" (GS 5/386). Der Text wird uns näherbringen, was Adorno überhaupt unter Idealismus versteht und worin seiner Ansicht nach die Probleme des Idealismus bestehen, die zum Übergang in den Materialismus nötigen. Hinzugezogen werden Ausschnitte aus der Vorlesung Erkenntnistheorie, die Adorno kurz nach Veröffentlichung der Metakritik gehalten hat. Abhängig davon, wie sich die Diskussion im Seminar entwickelt und welche Interessenslagen hervortreten, werden wir Anschlusstexte auswählen. Bekanntlich sind Adornos Texte oftmals dickichthaft verschlungen und voller Verweise auf die Philosophiegeschichte. Wir werden diese Texte also ohne Hast und dafür gründlich durcharbeiten.

Der Leistungsnachweis besteht in der Anfertigung einer kurzen Hausarbeit (ca. 20.000 Zeichen). Im Lauf des Semesters werden Fragestellungen bekannt gegeben, die bearbeitet werden können. 

Literatur
Adorno, Theodor W.: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Husserl und die phänomenologischen Antinomien, Gesammelte Schriften, Bd. 5, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 2003, S. 7–245.
Adorno, Theodor W.: Erkenntnistheorie, Nachgelassene Schriften IV: Vorlesungen, Bd. 1, hg. von Karel Markus, Berlin 2018.

Semester: WT 2023/24